In der Scheinwelt der Propagandalügen

Unter Putin würde auf der Krim nicht mehr Russisch gesprochen, sondern Russisch geschwiegen werden.

Für einen Ukraine-Freund waren die letzten Monate nichts anderes als ein Albtraum, aus dem man endlich erwachen möchte, um wieder in den Alltag zurückzukehren. Ukraine-Freunde mit Herz haben derzeit keinen Alltag. Schließlich geht es um die Zukunft der Menschen, mit denen man bekannt oder auch befreundet ist. In meinem Fall sind das Menschen unterschiedlicher Nationalitäten aus der gesamten Ukraine.

Als jemand, der des Ukrainischen und des Russischen gleichermaßen mächtig ist, habe ich vor allem während der letzten 20Jahre zahlreiche persönliche Beobachtungen zur Sprachensituation in der Ukraine gesammelt. In der Ukraine wollte ich immer schon Ukrainisch, nicht Russisch sprechen. Wie aber ergeht es Ukrainischsprachigen in der Ukraine?

Das Ergebnis ist für Deutschsprachige schwer vorstellbar: Besonders in Großstädten des Ostens und Südens, die in sowjetischer Zeit einem enormen Russifizierungsdruck unterzogen wurden (dazu gehört die Ermordung einer ganzen Generation „nationalistischer“ Intellektueller während des Stalin-Terrors), werden Sprecher des Ukrainischen bis heute demonstrativ nicht verstanden oder mitleidig bis verächtlich belächelt.

Ukrainischsprachige Antworten auf meine Anliegen (Kauf von Lebensmitteln oder Zeitungen, Buchbestellungen in Bibliotheken u.a.) blieben geradezu sensationelle Einzelfälle. Ja, ich wurde mehrfach als Ukrainischsprachiger diskriminiert!

Wer wirklich unterdrückt wird

Wladimir Putin, der in seinem zunehmend autoritären Staat eine schier unfassbare Scheinwelt der propagandistischen Lügen aufbaute, ließ nun verlauten, dass er seinen Krieg gegen die Ukraine lediglich zum Schutz der Russen in der Ukraine oder auch im Namen der Menschenrechte in Gang setzt.

Putin hat in der Vergangenheit immer wieder von 17 Millionen Russen in der Ukraine gesprochen, in Wirklichkeit sind es nur knapp über 17 Prozent (von etwa 45 Millionen, also weniger als die Hälfte). Putin spricht von der Unterdrückung der Russen in der Ukraine und schweigt sich darüber aus, dass in der ukrainischen Medienlandschaft das Russische dominiert, dass es viele russischsprachige Schulen gibt und dass das Russische in der Ukraine immer gesetzlich geschützt wurde (auch ohne das problematische Sprachengesetz aus dem Jahr 2012).

Befreiung der „Volksgenossen“

Nun aber will gerade die russischsprachige Bevölkerung der Ukraine partout nicht von Putin „befreit“ werden, weil die Menschen wissen, dass unter Putin nicht Russisch gesprochen, sondern Russisch geschwiegen würde (so heißt es in einem trefflichen Bonmot).

In seinem Furor musste Putin letztlich sogar Busse mit Bürgern der Russischen Föderation in die ukrainischen Städte karren lassen, um dort Menschen zusammenprügeln und nach „Russland“ schreien zu lassen. In Charkiw etwa hisste ein russischer Staatsbürger, der im Internet seine Bewunderung für Adolf Hitler dokumentiert hatte, nach einem Pogrom gegen ukrainische Intellektuelle (unter anderen den renommierten Schriftsteller Serhij Zhadan) die russische Fahne. Spätestens hier werden die Dinge abgeschmackt.

Putin hat ein Gebiet eines anderen Staates annektiert, um seine „Volksgenossen“ zu befreien, wie es nach dem gängigen russischen Politsprech heißt (auf Russisch: sootechestvenniki). Und da schaut die Welt zu, weil in der Krim als einzigem Gebiet der Ukraine – nach einem Genozid an den Krimtataren – die Mehrheit der Bevölkerung ethnisch russisch ist?

Wie soll das weitergehen? 1938 war es Österreich, dann das Sudetenland. Dann kamen Böhmen und Mähren. Und dann?

Michael Moser ist Professor für Slawische Sprachwissenschaft an der Universität Wien, der Ukrainischen Freien Universität München und der Katholischen Péter-Pázmány-Universität in Budapest und Piliscsaba. Seit Oktober 2013 ist er Präsident des Internationalen Ukrainistenverbandes.

E-Mails an:debatte@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 11.03.2014)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.